Archiv der Kategorie Erinnerungskiste

Jokertag

Weil heute der 29.2. ist und ich diesen Tag einfach wunderbar finde, gibt es die Erinnerungskiste heute mal am Mittwoch. Für meine beste Freundin und mich ist das hier nämlich der Jokertag. Und der will gefeiert werden. Deswegen zeige ich euch heute nämlich meine Jokersammlung (und meine Narrenschellen) und erzähle die Geschichte dazu.

Die Freundschaft mit meiner besten Freundin Sabine dauert jetzt schon seit knapp 9 Jahren, die meiste Zeit mit 700km zwischen uns. Zwar haben wir die gleiche Schule besucht, aber wir hatten irgendwie nie was miteinander zu tun. Erst mitten in der 13. Klasse kamen wir ins Gespräch, mit einer denkwürdigen Freistunde, die mit lautem Singen von Monty-Python-Songs endete und einer Demo gegen den Irakkrieg, bei der wir einfach nicht aus dem Reden rauskamen. Und so kam es, dass ich fast den kompletten Sommer zwischen Abi und Studium bei ihr verbrachte, mit langen Spaziergängen und nächtelangen Gesprächen, mit dem Versuch, die Welt zu verstehen, den Sinn des Lebens und die Männer. Nächtliche Ausflüge zum zweihundert Meter entfernten Schloss, Plünderungen der elterlichen Speisekammer und Gespräche, Gespräche, Gespräche. Es war einer der schönsten Sommer meines Lebens.

Und weil wir beide sehr gerne lesen, wurden auch Lieblingsbücher aneinander verliehen – beispielsweise Jostein Gaarders „Das Kartengeheimnis“, eine Geschichte in einer Geschichte in einer… – insgesamt sehr verschachtelt. In der Geschichte spielt die Figur des Jokers als Beobachter eine große Rolle, und das faszinierte uns beide, Sabine und mich. Auch sammelt eine Figur Joker – was mich dazu brachte, das auch zu machen. Es schien schier Schicksal (so wie mit 18 irgendwie alles Schicksal zu sein scheint), als mir irgendwann im Gespräch mit Sabine aus dem Bücherregal meiner Mutter ein Joker entgegen fiel. So wurde er in zwei Teile geschnitten. (Hast du deinen Teil noch, Bine?)

Diese Faszination mit dieser Figur hat dazu geführt, dass ich mittlerweile über hundert Joker habe, vielleicht auch 150. Viele davon habe ich einem anderen Sammler abgekauft, und viele habe ich auf Flohmärkten gefunden und einen ganzen Stapel in einem Laden in Adelaide. Das Ganze ging soweit, dass ich meine Bachelorarbeit über die Figur des weisen Narren in Shakespeares Spätwerk geschrieben habe. Diese Figur, die nie so ganz dazugehört und deswegen – oder auch trotzdem – die Welt viel klarer sieht als alle anderen. Einer, den keiner ernst nimmt, und der deswegen eine „Fool’s Licence“ hat. Einer, der immer wissen will und nie seinen Platz in der Welt findet.

Der 29.2. ist in diesem Buch der sogenannte Jokertag, und so war er für uns immer etwas ganz besonderes. Vor acht Jahren wurden Karten hin und her geschickt, und vor vier Jahren haben wir ein paar Tage miteinander verbracht und eine Flaschenpost verschickt. Dieses Jahr… wir werden sehen.

Die Freundschaft jedenfalls dauert noch immer, mit der großen Entfernung und auch mit unseren sehr vollen Leben, die dazu führen, dass wir wesentlich weniger telefonieren als früher. Aber wenn, dann kommen wir nicht aus dem Reden raus und halten uns nicht mit Smalltalk auf, dann geht’s gleich ans Eingemachte.

Liebe Bine, ich wünsche dir alles Liebe zum Jokertag. Schön, dass es dich gibt.

Eine metallene Auflaufform

Jeden Donnerstag wieder ein Gegenstand und die Erinnerungen, die ich damit verbinde. Heute: Eine metallene Auflaufform.

2004 zog ich nach Oldenburg, nachdem ich vorher ein Jahr lang in Emden gelebt und dort Sozialarbeit studiert und wieder abgebrochen hatte. In den Norden aber hatte ich mich verliebt und wollte hier bleiben, also wurde es Oldenburg. Dazu musste ich aus meiner wunderbaren WG in Emden ausziehen und mir in Oldenburg was neues suchen, klar. Wer von euch schon mal ne WG gesucht hat, weiß, wie unfassbar anstrengend das ist – man läuft im Grunde von Casting zu Casting, muss Fragen beantworten und sich gleichzeitig selber fragen, ob Wohnung und Mitbewohner denn zu einem selbst passen. Zimmergröße, Preis, Wohnungslage, Mitbewohner, Sauberkeitsbedürfnis, Ruhebedürfnis, Sozialbedürfnis – alles muss passen. Ein richtig gutes WG-Zimmer mit entsprechenden Mitbewohnern ist ein Hauptgewinn. Und noch ein Gesetz: Man findet immer erst etwas, wenn man den Hals gestrichen voll hat mit Suchen.

So war’s auch bei mir und ich zog ein, zu drei Mitbewohnern und zwei Katzen (was bald zu nur zwei Mitbewohnern wurde, nur Jungs) in einem eher fragwürdigen Viertel Oldenburgs und blieb für zweieinviertel Jahre. Es war – wie alle echten WGs – eine schräge Angelegenheit. Da kommen mehrere Leute mit ihren Schrullen zusammen und müssen miteinander auskommen, und gerade weil so ein Zuhause ja auch ein Rückzugsort ist, will man sich nicht verstellen müssen.

Es folgen ein paar besonders schräge Situationen, bei denen ich immer noch grinsen muss, wenn ich dran denke.

Wie eines nachts eine gute Freundin bei mir pennte, wir seit Stunden im Bett lagen und redeten und redeten – und plötzlich mein etwas korpulenterer Mitbewohner nur mit einem Handtuch begleitet durch mein Zimmer tappte. Von meinem Zimmer aus ging’s auf den Balkon, und Klopfen ist für Anfänger. Er lief irgendwie öfter halbnackt durch mein Zimmer, ich bin nicht nur einmal davon aufgewacht. Und ich hab jedes Mal tierisch drüber gelacht.

Die WG-Party, auf der ich meine erste große Liebe traf und er mich vollkommen umgehauen hat.

Die Tatsache, dass besagter Mitbewohner im Wohnzimmer ein Mini-Raclette-Gerät stehen hatte, mit nur zwei Pfännchen. Falls man mal beim DVD gucken spontan das Bedürfnis nach geschmolzenem Käse hat. Klar.

Die Wandfarbe der Küche: Knallgelb, mit vielen knallroten Tupfen. Die Legende ging, dass irgendwann irgendwer sehr betrunken beschloss, die Küche zu streichen.

Playstationorgien – die zwei Jungs, die nächtelang Konsole spielten, wirklich nächtelang. Und die Spiele wurden wirklich ausgereizt. Zuerst gab es monatelang ein Rennspiel, dann monatelang Giana Sister und dann monatelang Golf. Und ich schaute wie hypnotisiert zu. Stundenlang.

Ein besonders knappes Monatsende, wo wir alle so pleite waren, dass wir zusammen noch nen Euro hatten. Eine gute Freundin bekam das mit und brachte tütenweise Essen für uns. Und das Festmahl, das daraus wurde.

Der Aftershaveduft, der ankündigte, dass ein Mitbewohner feiern gehen wollte.

Prilblumen, überall in der Wohnung.

Die Wand zwischen meinem Zimmer und dem Gemeinschaftsraum, die nur aus einer überstrichenen Glasscheibe und einer Lage Styropor bestand. Ich konnte teilweise nächtelang nicht schlafen, weil meine Mitbewohner „Mensch ärger dich nicht“ spielten und der Würfel so laut war. Ernsthaft.

Die Kunst des Fertigpizzen-Tunens. Schließlich kann man eine Tiefkühlpizza nicht einfach so essen. Stattdessen muss man noch ordentlich Käse und Gewürze drauf machen. Viel Käse. Viele Gewürze.

Die Senfphase einer Freundin und mir: Wie wir an zwei Abenden mit der WG da saßen und zu zweit ein Gurkenglas voller Honigsenfsauce löffelten. Allen anderen wurde schlecht vom Anblick, aber wir fanden’s lustig.

Das gegenseitige Abhören vor mündlichen Prüfungen – wie ich mit einem der Jungs auf dem Balkon saß, ihm von Kant erzählte und er mir von C.G. Jung.

Am Ende haben wir uns dann aus den verschiedensten Gründen unrettbar zerstritten – aber wenigstens kann ich sagen, dass ich in sehr, sehr schrägen WGs gelebt habe. (Das hier war die drittschrägste.) Meine Enkel werden mal ihren Spaß an den Anekdoten haben.

Achso, und die Auflaufform? Davon waren zwei in der Küche, die wir ständig benutzten, die waren auch bestimmt schon so lange in der Wohnung wie es die WG gab. Irgendwann hab ich zwei neue gekauft, aber so toll wie die alten war keine andere. Also habe ich eine alte mitgenommen und eine neue dagelassen, als ich gegangen bin. Aus Sentimentalität und um leckerer Aufläufe Willen.

Vielleicht demnächst mal mehr zu einer anderen, noch schrägeren WG. (Ich habe übrigens, wenn man Australien mitrechnet, in sechs WGs gelebt, alles zwischen einem und vier Mitbewohnern war dabei.)

Ein Elefanten-Mobile

Jeden Donnerstag wieder ein Gegenstand und die Erinnerungen, die ich damit verbinde. Heute: Ein Elefanten-Mobile.

Als ich 12 war, kam meine Mutter mit meinem Stiefvater zusammen (der ist so großartig, ein Fall für sich). Und der wiederum hatte natürlich auch Freunde, die ich dann nach und nach auch kennen lernte. Ich wurde eben immer wieder mitgenommen und war dabei, wenn über Gott und die Welt gequatscht wurde, Kaffee getrunken, all sowas eben.

Eine sehr gute Freundin wurde dann ziemlich krank, als ich 18 war und gerade mein Abi hatte. Da ich zwischen Abi und Studium relativ viel Zeit hatte, besuchte ich sie ein paar Mal im Krankenhaus und half ihr, als sie dann wieder zu Hause war, manchmal auch mit kleinen Einkäufen oder kam einfach so auf nen Tee vorbei. Ihre Wohnung fand ich immer klasse, sie war irgendwie etwas alternativ eingerichtet, mit schönen Flohmarktmöbeln, Holzperlenvorhängen, bunten Stoffen. (Wenn ich eine Wohnung einrichten dürfte, wie ich will, ohne mich nach anderen Leuten zu richten, würde ich es auch so machen. Oder wie bei meiner Mutter und meinem Stiefvater, die leben auch äußerst gemütlich.)

Auf jeden Fall hing da eines Tages dieses Elefantenmobile, das sie auf einem Flohmarkt gefunden hatte, plötzlich da, und ich bin einfach herausgeplatzt, dass ich sie toll finde. Und sie nahm sie ab und schenkte sie mir, einfach so. Zwei Dinge haben mich daran sehr berührt: Einerseits war es das erste Geschenk, dass ich irgendwie Auge in Auge mit einem Erwachsenen bekommen habe, nicht als Kind oder Jüngere, sondern einfach auf Augenhöhe, zumindest habe ich das so erlebt. Zweitens fand ich wunderbar, wie freigiebig sie war – sie hat nicht nachgedacht, sondern einfach geteilt. Solche Großzügigkeit finde ich bewundernswert.

Und seit ich dieses Mobile habe, hängt es in jeder meiner Wohnungen, es hat immer einen Platz bekommen.

Das schönste Haus von Welt

Jeden Donnerstag wieder ein Gegenstand und die Erinnerungen, die ich damit verbinde. Heute: Ein Foto des Hauses, in dem ich von 7 bis 12 gelebt habe.

Ich glaube, jeder Mensch hat, wenn er nur tief genug in sich sucht, ein Bild vor Augen, das ihn treibt. Sicher auch mehrere Bilder – welche, vor denen man wegläuft, weil sie so dunkel sind. Aber eben auch welche, nach denen man immer suchen wird, auf die man hinarbeitet. Bei mir zeigt eines dieser schönen Bilder die Rosenstraße 55. In diesem Haus und seinem Garten hatte ich den schönsten Sommer meines Lebens, der Sommer 1993, als ich 8 wurde.

Manche Erinnerungen bekommen irgendwann so einen Glanz, so einen Goldschimmer. Im Grunde sehen diese Erinnerungen dann aus wie Fotos mit „Vintagefilter“. Die allerschönsten Erinnerungen sind so, und dieser Sommer gehört dazu.

Und da es ein ganzer Sommer ist, hier ein paar Blitzlichter daraus.

Wie meine Eltern Blumenbeete anlegten, einen Gemüsegarten… Die Apfelbäume und der Kirschbaum. Unser eigenes Gemüse, unser eigenes Obst, aus unserem Garten. Und viel davon.

Und dann die Einweihungsfeier und um die gleiche Zeit mein achter Geburtstag. Meine Eltern stellten sogar ein kleines Bierzelt im Garten auf, und wir grillten und Freunde meiner Eltern machten Musik, einer machte sogar eine Zauber- und Kabarettshow. Abends dann Lagerfeuer, glaube ich mich zu erinnern.

Mein Kindergeburtstag mit den neuen Freunden und ein paar alten. Wie gemeinsam mit den Freunden der Kirschbaum geplündert wurde und meine Mutter mit uns wunderbare Spiele machte. Eine Freundin aß so viel von den Kirschen, dass sie sich übergeben musste. Und Marmorkuchen gab es mit Sicherheit auch, den gab es immer. Und ein Freund meiner Eltern, der für uns Kinder Geschichten von Ringelnatz erzählte und mir Kästnerbücher schenkte.

Und schließlich die Sommerferien. Meine Mutter stellte unter den beiden Ahornbäumen ein Zelt für mich auf, wo ich mich aber immer nur tagsüber aufhielt. Nachts wollte ich dann doch lieber in mein richtiges Bett. Aber so ein Zelt zu haben, das fühlte sich nach Abenteuer an.

Dann kam für einige Wochen meine vier Jahre ältere Cousine zu Besuch. Und dann wurde die Zeit noch viel schöner, mit Fahrradfahren lernen, Schwimmbad und gemeinsamem Spielen. Und immer wieder auch Streit, klar. Den meine Mutter eines Tages folgendermaßen schlichtete: Sie schiss uns ordentlich zusammen und schickte uns dann hoch ins Zimmer, unsere Badeanzüge anziehen und sofort runterkommen. Als wir dann kleinlaut wieder im Garten waren, wartete sie mit dem Gartenschlauch auf uns und drehte das Wasser auf. Was haben wir gelacht! Und Wasserbombenschlachten haben wir auch veranstaltet.

Und schließlich das Bild, wie meine Mutter im Gartenschuppen ist und Möbel restauriert. Ich fand das damals relativ uninteressant, wenn auch irgendwie krass, dass sie das kann. Aber heute würde ich das auch gerne können und werde es demnächst vielleicht auch versuchen.

Ein Sommer voller Abenteuer und Sterne, voller Blumen und Spiel. Und der letzte Sommer, bevor meine Eltern sich trennten. Aber das ist eine andere Geschichte, und die gehört hier nicht hin.

Mein erster Schultag

Jeden Donnerstag wieder ein Gegenstand und die Erinnerungen, die ich damit verbinde. Heute: Ein Bild von meiner Einschulung.

Ich bin verdammt gerne zur Schule gegangen, darüber hatte ich auch schon mal hier geschrieben. Ich hatte immer schon gerne Fragen gestellt und meine Mutter damit gerne mal an den Rand ihres Verstandes getrieben. Beispiel:

Ich: Maman, was ist die Relativitätstheorie?
Maman: Das weiß ich nicht.
Ich: Ich dachte, Erwachsene wissen alles!

Eine geduldige Frau, meine Mutter.

Auf jeden Fall wurde ich dann irgendwann eingeschult. Im Kindergarten waren sie froh, mich loszuwerden. Zu viele Fragen. Nerviges Kind. (Was kann denn ich dafür, wenn die uns so pädagogisch wertvolle Aufgaben geben wie die Passion Christi in Öl zu malen? Flitzepiepen. Und die anderen Kinder waren auch doof. Die wollten immer nur spielen und nie diskutieren. Wen interessieren schon Klötze und Puppen, wenn man über alles mögliche reden kann?)

Und so habe ich mich wahnsinnig darauf gefreut, endlich in die Schule zu kommen. Endlich würde ich erwachsen sein. Immerhin war ich schon sechs, und da würde es dann auch mal Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen und nicht nur den ganzen Tag zu spielen. In Vorbereitung auf den großen Tag habe ich dann meinen Eltern mitgeteilt, dass ich bitte nur nützliche Dinge in meine Schultüte wolle, Hefte und Stifte und all sowas (glücklicherweise haben sie sich nicht dran gehalten).

Meine Mutter hat dann auch noch eine strategisch verdammt kluge Sache gemacht: Sie hat in den Wochen vor der Einschulung und auch während des kompletten ersten Schuljahrs immer und immer wieder gesagt, dass sie so gerne an meiner Stelle wäre. So gerne würde sie wieder in die Schule gehen. Ich hätte so ein Glück. Schule sei so unglaublich toll. Und so war ich dann auch unglaublich froh, in die Schule gehen zu dürfen.

Zu Beginn war dann auch alles furchtbar spannend. Die neue Klasse, die Lehrerin, die Bussibär-Schultüte, der Schulranzen, der Schulweg. Die Fotos vom ersten Schultag, wo ich wie ein Model posiere. (Ich liebe die Pose!) Schreiben lernen. Rechnen lernen. Die erste große Pause: Ich saß mit baumelnden Beinen auf einer Mauer, aß mein Brot und trank ein Trinkpäckchen. Alle anderen Kinder liefen rum, und die machten das ja alle falsch – schließlich darf man beim Essen nicht rumlaufen.

Und auch wenn dann im Endeffekt nicht alles ganz so toll war, weil die anderen Kinder mich nicht wirklich mochten (die wollten auch lieber spielen als zu lernen und zu diskutieren), der Sportlehrer auch nicht (so richtig, wie man sich einen Sowjet-Sportlehrer vorstellt, im schlimmsten Sinne) und der Unterricht eigentlich viel zu langsam ging (wie lange kann man denn für einen einzelnen Buchstaben brauchen?) – die Freude am Lernen habe ich behalten. Und meine Eigenheiten auch.

In einigen Monaten dann habe ich wieder einen ersten Schultag, diesmal dann als Referendarin. Vielleicht bekomme ich ja wieder eine Schultüte.

Krankengymnastik mal anders

Jeden Donnerstag wieder ein Gegenstand und die Erinnerungen, die ich damit verbinde. Heute: Eine Zeichnung, die meine Maman gemacht hat.

Diese Zeichnung hat meine Mutter angefertigt, fast sieben Jahre, bevor ich geboren wurde, Jahre, bevor sie mit meinem Vater zusammen kam… Für mich fühlt sich das an wie ein anderes Zeitalter (naja, wars ja gewissermaßen auch). Sie hat das Bild aus einem Satirebuch abgezeichnet, nämlich aus „Humour Noir et Hommes en Blanc“ von Serre (lässt sich mit „Schwarzer Humor und Männer in Weiß“ übersetzen).

Ich liebe dieses Bild, weil es einerseits Mamans tollen Humor zeigt, und weil man andererseits sieht, wie verdammt gut sie zeichnen kann. Und gleichzeitig liebe ich den Gedanken, wie ihr Leben vor mir aussah. Ich stelle mir gerne vor, wie sie lange Hippieröcke trug, mit Freunden bis in die tiefste Nacht in irgendeiner Küche saß und redete, redete, redete. Oder mit Leuten Musik machte. Ich glaube, sie war auf jeden Fall jemand, mit dem ich gerne befreundet gewesen wäre. (Natürlich immer noch, aber jetzt ist sie ja vor allem meine Maman.)

Von ihr habe ich übrigens auch die Begeisterung für DIY. Sie hat, als ich Kind war, viel mit mir gebastelt und gemalt. Sie erzählte letztens, dass wir mal zusammen dutzende Weihnachtskarten gemacht haben. Da muss ich so vier oder fünf gewesen sein. Jede einzelne gemeinsam. Außerdem hat sie leidenschaftlich gerne Möbel restauriert (jetzt nicht mehr so, jetzt ist sie eingerichtet und das total schön und gemütlich – ich würde ihr sofort ihr Zuhause mopsen), im Garten gearbeitet, Gemüse eingekocht. Als meine Eltern dann getrennt waren, hatten wir bei meiner Maman keinen Fernseher – stattdessen saßen wir an jedem Abend am Küchentisch und haben gelesen. Oder gemalt. Oder haben merkwürdige Experimente gemacht, beispielsweise verschiedenste Dinge einfrieren, um zu gucken, was passiert (nix – es wird nur kalt). Dass ich heute mit den Händen relativ geschickt bin, verdanke ich ihr. Ich denke, wenn ich mal Mama bin, mache ich das genauso wie sie.

Pferd mit Geldeinwurf

Jeden Donnerstag wieder ein Gegenstand und die Erinnerungen, die ich damit verbinde. Heute: Ein Pferd mit Geldeinwurf. Nämlich dieses hier:

Dieses Pferd steht in meiner Heimatstadt und früher hat es 30 Pfennig gekostet, darauf zu reiten. Wann immer ich mit meiner Oma oder meinen Eltern in der Stadt war und wir daran vorbeiliefen, wollte ich unbedingt reiten. Ich weiß noch, dass es vor einem Kleidungsgeschäft stand und ich es – sobald ich lesen konnte – immer sehr lustig fand, dass da Kleidung aus Popeline verkauft wurde. „Iiiih, die machen Sachen aus Popeln!“ Und dazu Gekicher und ein demonstrativer Finger in der Nase. (Wenn die was daraus verkaufen durften, durfte ich auch Nase bohren.)

Ãœberhaupt muss ich beim Anblick dieses Pferdes daran denken, wie das war, mit meiner Oma in die Stadt zu gehen. Ich komme aus einer 40.000-Einwohnerstadt, da ist also nicht so viel los. (Mittlerweile gibt es weder Kino noch Theater noch Kaufhaus noch…) Aber mit Oma wars spannend. Da musste man immer nahe am „Deich“ (oder wie das heißt, wenn direkt daneben eine Böschung zu unserem Flüsschen runtergeht) laufen, damit Oma nicht runterfällt. Da war eine Mauer, auf der man laufen konnte – und am Verkehrsschild daneben runterrutschen. Immer hatte ich drei Wünsche frei, was Oma kaufen sollte, ob nun eine bestimmte Wurstsorte („Blümchenwurst“, also Geflügelwurst mit Geflügelstückchen drin) oder Schokolade oder ein Eis oder Aufkleber. Dann musste mit Nachbarinnen gesprochen werden – und hinterher mit Oma darüber gelästert, was „der Ascheneimer“ (eine bestimmte Dame) oder „die Tunten“ (alle Damen, mit denen Oma sprach) so anhatten oder gesagt haben. Oder dass sie komisch rochen. Und dann musste man mit dem Ehepaar reden, dem der Schreibwarenladen gehörte.

Ich hab die Abenteuer mit Oma geliebt.

All diese Erinnerungen kommen, wenn ich dieses Pferd sehe. (Und weil ich gestern das Telefon in der Hand hatte und dachte, dass ich ja mal Oma anrufen könnte. Eine halbe Sekunde danach fiel mir ein, dass sie seit drei Jahren tot ist. Passiert mir manchmal.)

Viele, viele Zettel

Jeden Donnerstag wieder ein Gegenstand, mit dem ich Erinnerungen verbinde – und die Geschichte dazu.

Heute: Ganz viele Zettel, geschrieben von meiner Maman.

Als ich 8 war, haben sich meine Eltern getrennt und wie das so ist, hat sich meine Mutter dann auch eine eigene Wohnung genommen. Auf die Zeit will ich gar nicht genauer eingehen (war einfach scheiße), aber dann hat es eben begonnen, dass ich an einem Tag die Woche nach Hause kam und keiner da war, weil Maman noch arbeitete und Papa natürlich nicht bei meiner Mutter zu Hause war (ich mach’s aber auch kompliziert, was?).

Langer Rede kurzer Sinn: Wann immer ich an diesen Dienstagen heim kam und meine Mutter noch nicht da war, lag ein Zettel auf dem Tisch, auf dem einfach kurz stand, was für den restlichen Tag geplant war, oder ein lustiger Spruch – und immer ein „Ich liebe dich“ oder ein „Dicker Kuss“. Mir kamen solche Zettel damals irgendwie „erwachsen“ vor, deswegen habe ich sie damals aufgehoben, mittlerweile sind sie einfach viele kleine Botschaften aus der Vergangenheit. Als meine Mutter dann Jahre später mit meinem Stiefvater zusammengekommen war, schrieb er auch gerne mal was drauf, was mir immer ein Grinsen entlockte. (Die abgebildeten Zettel sind übrigens nur ein Bruchteil der Zettel, die ich habe. Das sind ungefähr drei fast berstende Umschläge voll.)

Die Zettel erzählen 10 Jahre meines Lebens, von 8 bis 18 (bis ich eben von zu Hause ausgezogen bin) und vieles lässt mich grinsen. Da ist beispielsweise der Zettel, den mein Stiefvater geschrieben hat, als ich ungefähr 17 war und eine Diät machte. Er klebte an meine Tür: „Ellen hat 100g abgenommen.“ Schön ist auch:

Hi Ellenchen!
Ich hoffe, daß die Krönung Deines Urlaubs toll war! Im Kühlschrank ist für dich morgen (zum Mitnehmen) Nudelsalat mit Gebrauchsanweisungen! Mache einfach den Tupper voll. Falls du Lust auf Erdbeeren hast, bitte nimm dir, aber vergiß nicht, daß wir auch Appetit haben!! Ich wünsche dir einen guten ersten Schultag! Kuss. Kuss!
Maman

Laber-Laber
Klaus

Ich liebe es bis heute, wenn mir jemand nette Zettel hinterlässt.

Alternativer Buchpreis

Jeden Donnerstag wieder ein Gegenstand, mit dem ich schöne Erinnerungen verbinde und seine Geschichte.

Heute: Der „alternative Buchpreis“, den mein Vater mir verliehen hat, als ich 12 war.

Erstmal lesen:

Als Schülerin war ich – ich glaube, andere würden es als „Streberin“ bezeichnen. (Ich nicht.) Am ersten Schultag habe ich beschlossen, dass ich jetzt alles Wissen in mich aufsaugen will. Ich hab die Lehrerin umarmt und wollte nicht mehr nach Hause. (Was sollte ich auch das? Die interessanten Sachen würden schließlich in der Schule passieren. Die Lehrerin und ich würden einfach noch weitermachen, wenn die doofen anderen Kinder spielten, und ich würde innerhalb kürzester Zeit lesen können und die Relativitätstheorie überarbeiten. Was man halt so macht als Sechsjährige.) Und so war ich dann die ersten 6 Jahre meiner Schulkarriere Klassenbeste. Keine Kunst, wenn man so gerne lernt, wie ich das tat. Im Gymnasium gab es dann für einen gewissen Notenschnitt sogar einen Buchpreis, jedes Jahr zu den Zeugnissen.

Aber dann – Grauen, oh Grauen – kam die siebte Klasse. (Der geneigte Leser wird gebeten, sich die Musik aus „Psycho“ vorzustellen.) Und mit der siebten Klasse kamen Gleichungen. (Die Musik wird immer gruseliger.) Und ich verstand plötzlich kein Mathe mehr! (Jetzt sticht das Messer von Norman Bates durch den Vorhang und ihr kreischt alle.) Naja, ich bildete mir das zumindest ein. Ich bildete mir das immerhin erfolgreich genug ein, um eine Drei in Mathe zu bekommen. (Jetzt läuft die Putzfrau durch euer inneres Bild und wischt das ganze Kunstblut weg.) Und mit der Drei hieß es: Goodbye, Buchpreis.

Ich hab damals jede Mathearbeit mit Heulen verbracht, weil es mich so gewurmt habe, dass ich das nicht verstehe. Mein Vater musste sogar mal in die Schule kommen, weil der Lehrer dachte, ich würde für die 3en, die ich bekam, verprügelt oder in den Keller gesperrt oder was auch immer.

Aber es gibt ein gutes Ende: Mein Vater schrieb mir den „alternativen Buchpreis“. Das Coole ist ja, dass ich an diesem Zettel heute deutlich mehr Freude habe als an irgendwelchen Kinderbüchern, die ich mir damals ausgesucht habe.

Von Seiltänzerinnen und ängstlichen Löwen

Jeden Donnerstag ein persönlicher Gegenstand und seine Geschichte. (Ihr seid übrigens herzlich eingeladen, auch mitzumachen und die Links zu euren Posts in den Kommentaren zu hinterlassen!)

Heute: Ein von meinem Vater geschriebenes Buch mit Gutenachtgeschichten.

Mein Vater ist nicht so der klassische Künstlertyp, Geschichten aber konnte er immer toll erzählen. Oft war da der kleine Bär Ottobaby, der mit seiner Piepsestimme von geklauten Heringsdosen und Orgien im Barbiehaus erzählte („Was glaubst denn du, was wir machen, wenn du schläfst?“) und natürlich war er auch immer an meinem chaotischen Zimmer schuld. Den Bären hat er noch mehr geliebt als ich, glaube ich.

Oft erzählte mir Papa auch von einem kleinen Zirkus.

Da gab es die Seiltänzerin Seilmimi, eine hübsche junge Frau, die jeden Morgen aus wechselnden Varianten desselben Traums erwacht: Sie träumt davon, in einem wunderschönen Brautkleid einen Prinz zu heiraten, was jedoch nie klappt, weil der Prinz sich immer als Mogelpackung entpuppt – immer ist es ein betrunkener Schaffner, ein lispelnder Polizist oder sonstein uniformierter Mann mit irgendeiner Macke, die kein Traummann jemals haben dürfte, will er ein echter Prinz sein. Im letzten Moment wacht Seilmimi dann immer auf. (Ja, ich weiß. Niemand ist perfekt. Aber Kleinmädchen-Märchenprinzen müssen es dennoch sein.)

Ihr bester Freund, der sie täglich mit Brötchen weckt, ist Peppino, ein Clown, der wenig von Körperhygiene hält. Diesen Clown verbindet eine etwas merkwürdige Beziehung zu seinem Dackel Fifi, denn der Hund hat sich das Bett erobert, sodass der Clown immer im Hundekörbchen schlafen muss. Das führt bei Peppino zu chronischen Rückenschmerzen, aber was er dagegen unternehmen soll, weiß er auch nicht. Fifi hat noch ein zusätzliches Talent: Er findet in jeder Stadt, in die der Zirkus kommt, sofort die nächste Metzgerei, wo er mit traurigen Hundeaugen vom Metzger ein großes Stück Wurst und ein Nickerchen auf dem Sofa erbettelt.

Schließlich sind da noch einige andere skurrile Figuren, beispielsweise der unglaublich dicke Zirkusdirektor, den alle nur „Zirkusdirektorchen“ nennen oder die Miezekatze, das ist der Löwe, der besonders vor Mäusen und dem Zahnarzt schreckliche Angst hat.

Die Tage im Zirkus verlaufen gleichförmig und friedlich: Morgens wird gründlich gefrühstückt, dann geprobt und abends gibt es eine glamouröse Zirkusvorstellung, bei der Seilmimi die Hauptattraktion ist und Fifi vom Schoß des ortsansässigen Metzgers aus zusieht. Danach gucken sich Clown und Seiltänzerin noch die Sterne an, trinken Wein oder machen Folienkartoffeln und gehen dann schlafen.

Ich habe diese Geschichten immer geliebt. Als Kind hatte ich sogar ein Stockbett (was bei einem Einzelkind merkwürdig ist – wozu brauche ich zwei Betten?) und schlief immer unten, weil es dort Zirkuswagenatmosphäre hatte. Und an vielen Abenden erzählte mein Vater mir Zirkusgeschichten. Als ich dann 12 war, schrieb er einige davon für mich auf, ließ sie binden und schenkte sie mir zu Weihnachten. Damals schon habe ich mich ziemlich darüber gefreut, aber ihren eigentlichen Wert bekommen sie erst heute für mich, wo mein Vater mir keine Gutenachtgeschichten mehr erzählt. Vielleicht denken wir uns ja gemeinsam eine aus, wenn wir uns das nächste Mal sehen? Den ganzen Tag durch die Gegend fahren, Oma auf dem Friedhof besuchen (und ihr statt Blumen ein paar kleine Fläschchen Boonekamp mitbringen – was soll sie auch mit Blumen) und über Gott, die Welt und vielleicht auch den Zirkus reden.

Vielleicht stelle ich ja um Weihnachten herum mal eine der Geschichten online. (Würde euch das interessieren?)

Habt ihr früher auch Geschichten erzählt bekommen? Wovon handelten sie?


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