Von Seiltänzerinnen und ängstlichen Löwen

Jeden Donnerstag ein persönlicher Gegenstand und seine Geschichte. (Ihr seid übrigens herzlich eingeladen, auch mitzumachen und die Links zu euren Posts in den Kommentaren zu hinterlassen!)

Heute: Ein von meinem Vater geschriebenes Buch mit Gutenachtgeschichten.

Mein Vater ist nicht so der klassische Künstlertyp, Geschichten aber konnte er immer toll erzählen. Oft war da der kleine Bär Ottobaby, der mit seiner Piepsestimme von geklauten Heringsdosen und Orgien im Barbiehaus erzählte („Was glaubst denn du, was wir machen, wenn du schläfst?“) und natürlich war er auch immer an meinem chaotischen Zimmer schuld. Den Bären hat er noch mehr geliebt als ich, glaube ich.

Oft erzählte mir Papa auch von einem kleinen Zirkus.

Da gab es die Seiltänzerin Seilmimi, eine hübsche junge Frau, die jeden Morgen aus wechselnden Varianten desselben Traums erwacht: Sie träumt davon, in einem wunderschönen Brautkleid einen Prinz zu heiraten, was jedoch nie klappt, weil der Prinz sich immer als Mogelpackung entpuppt – immer ist es ein betrunkener Schaffner, ein lispelnder Polizist oder sonstein uniformierter Mann mit irgendeiner Macke, die kein Traummann jemals haben dürfte, will er ein echter Prinz sein. Im letzten Moment wacht Seilmimi dann immer auf. (Ja, ich weiß. Niemand ist perfekt. Aber Kleinmädchen-Märchenprinzen müssen es dennoch sein.)

Ihr bester Freund, der sie täglich mit Brötchen weckt, ist Peppino, ein Clown, der wenig von Körperhygiene hält. Diesen Clown verbindet eine etwas merkwürdige Beziehung zu seinem Dackel Fifi, denn der Hund hat sich das Bett erobert, sodass der Clown immer im Hundekörbchen schlafen muss. Das führt bei Peppino zu chronischen Rückenschmerzen, aber was er dagegen unternehmen soll, weiß er auch nicht. Fifi hat noch ein zusätzliches Talent: Er findet in jeder Stadt, in die der Zirkus kommt, sofort die nächste Metzgerei, wo er mit traurigen Hundeaugen vom Metzger ein großes Stück Wurst und ein Nickerchen auf dem Sofa erbettelt.

Schließlich sind da noch einige andere skurrile Figuren, beispielsweise der unglaublich dicke Zirkusdirektor, den alle nur „Zirkusdirektorchen“ nennen oder die Miezekatze, das ist der Löwe, der besonders vor Mäusen und dem Zahnarzt schreckliche Angst hat.

Die Tage im Zirkus verlaufen gleichförmig und friedlich: Morgens wird gründlich gefrühstückt, dann geprobt und abends gibt es eine glamouröse Zirkusvorstellung, bei der Seilmimi die Hauptattraktion ist und Fifi vom Schoß des ortsansässigen Metzgers aus zusieht. Danach gucken sich Clown und Seiltänzerin noch die Sterne an, trinken Wein oder machen Folienkartoffeln und gehen dann schlafen.

Ich habe diese Geschichten immer geliebt. Als Kind hatte ich sogar ein Stockbett (was bei einem Einzelkind merkwürdig ist – wozu brauche ich zwei Betten?) und schlief immer unten, weil es dort Zirkuswagenatmosphäre hatte. Und an vielen Abenden erzählte mein Vater mir Zirkusgeschichten. Als ich dann 12 war, schrieb er einige davon für mich auf, ließ sie binden und schenkte sie mir zu Weihnachten. Damals schon habe ich mich ziemlich darüber gefreut, aber ihren eigentlichen Wert bekommen sie erst heute für mich, wo mein Vater mir keine Gutenachtgeschichten mehr erzählt. Vielleicht denken wir uns ja gemeinsam eine aus, wenn wir uns das nächste Mal sehen? Den ganzen Tag durch die Gegend fahren, Oma auf dem Friedhof besuchen (und ihr statt Blumen ein paar kleine Fläschchen Boonekamp mitbringen – was soll sie auch mit Blumen) und über Gott, die Welt und vielleicht auch den Zirkus reden.

Vielleicht stelle ich ja um Weihnachten herum mal eine der Geschichten online. (Würde euch das interessieren?)

Habt ihr früher auch Geschichten erzählt bekommen? Wovon handelten sie?