Ein heißes Getränk
Es wird Herbst, und wenn ich durch die Stadt laufe, um zu tun, was ich eben so tue, bin ich froh um alles, was mir Wärme schenkt. Mein Wintermantel. Jedes Geschäft, in das ich gehe. Der Bus, mit dem ich wieder nach Hause fahre. Vor allem aber reizt mich dann der Gedanke an mein kuscheliges Zimmer, mit meinem Sofa, meinem Bett und der Heizung.
Und dann laufe ich vorbei an einem Bettler, der am Rand der Fußgängerzone sitzt. Also, mir wird schon kalt, wenn ich einige Minuten an der Bushaltestelle warte, und ich trage wirklich warme Kleidung. Wie lange er da schon sitzt, weiß ich nicht, aber wenn ich ihn so ansehe, wird mir noch kälter, aus so vielerlei Gründen. Ich meine, wir leben in einem der reichsten Länder der Welt, und wenn da ein Mensch auf dem Boden sitzt, zu unseren Füßen, laufen so viele vorbei.
Am liebsten würde ich jedem was geben. Kann ich aber nicht.  Und manchmal, wenn ich mit X unterwegs bin (X ist ein Mensch, den ich schon lange kenne, seine Identität spielt keine Rolle) und etwas geben will, hält er mich ab. Und dann erzählt mir X von irgendwelchen Banden, bei denen die eigentlichen Bettler kaum was von meinen paar Münzen behalten dürfen. Und meint, dass ich lieber an mich denken soll. Schließlich habe ich ja hart gearbeitet und mein Glück verdient.
Aber ehrlich gesagt bin ich sehr dankbar, dass ich nicht immer das kriege, was ich verdiene, im Guten wie im Schlechten. Stellt euch vor, alles in eurem Leben wäre eine direkte Folge eurer Handlungen – jeder Erfolg, jeder schöne Moment, aber auch jeder Verlust, jedes Scheitern, jede Krankheit. Ich fände das unerträglich, und ich bin froh, dass zu meinem Leben eine gute Prise Zufall gehört.
Und dann laufe ich, die ich in meinem Leben so viel Glück habe, an einem Menschen vorbei, der viel weniger Glück hatte. Und er sitzt mir da zu Füßen, und er friert. Das ist scheiße. Es ist ungerecht, und wenn ich da an ihm vorbeilaufe, tut mir sein Anblick einerseits weh, andererseits bin ich froh, dass ich nicht mit ihm tauschen muss. Dass ich meinen Liebsten habe, der für mich einsteht, und dass ich ein sehr starkes Netz habe, dass mich sehr lange davor beschützen kann, anderen Menschen zu Füßen zu sitzen und zu frieren.
Das mindeste, was ich tun kann, ist immer wieder ein bisschen Kleingeld parat zu haben. Und an kalten Tagen hinzugehen und zu fragen, ob man beim Bäcker nebenan ein heißes Getränk besorgen soll, und wie er es denn gerne hätte. Auf Augenhöhe. (Ich hab einmal ohne zu fragen einen Kaffee besorgt, der dann höflich abgelehnt wurde. Weil Kaffee ungesund ist, auch bei -10°C. Seitdem frage ich immer.) Weil es eine Sache ist, im Vorübergehen Kleingeld in eine Tasse zu werfen, eine ganz andere aber, wirklich miteinander in Verbindung zu treten.
Probiert’s mal aus. X hat nämlich unrecht.