Der neue Horizont

Ulrike kenne ich erst seit ein paar Wochen. Wir haben bei Twitter angefangen, uns zu unterhalten, und sind schnell zu den richtig tiefen Themen vorgedrungen. Dann entdeckte ich ihren Blog und verliebte mich auch noch in ihre Schreibe. Logisch, dass ich sie fragte, ob sie nicht etwas über Reisefieber schreiben möchte. Sie sagte ja (logisch, sonst würde ich das hier ja nicht gerade tippen) – und hier ist ihr Text, der mir beim Lesen sofort Sehnsucht machte:

Ich reise gerne. Der ein oder andere mag nun denken: „Aber jeder Mensch geht doch gerne auf Reisen.“ Aber das ist nicht so. Im erweiterten Bekanntenkreis beispielsweise, da gab es einmal eine Frau, die mochte gar nicht reisen. Sie war verheiratet und ihr Mann, der reiste gerne. Er wollte etwas von der Welt sehen und den zwei Kindern all die Ecken der Erde zeigen, die es sich zu sehen lohnt. Strände mit hohen Klippen im Rücken, tiefe Wälder, deren Rauschen die eigene Stimme übertönt, Berge, deren Besteigung müde wie glücklich macht.

Aber für sie waren die Sommerferien der Horror: Hotel: zu laut. Ferienhaus: zu viel Arbeit. Wohnmobil: zu eng. Zelt: zu viele Mücken. Nichts machte es ihr recht. Ich muss wohl kaum sagen, dass die Kinder mittlerweile Scheidungskinder sind und er eine Frau hat, die mit ihm viermal im Jahr reist – während sie im Sommer mit Inbrunst die Stange ihrer Wäschestange im heimischen Vorgarten des Reihenhäuschens streicht. (Ohne Wertung, übrigens) Zum Reisen muss man gemacht sein.

Dabei können wir seltener unseren festen Horizont aufbrechen, als wenn wir im Urlaub sind. Und wir müssen uns für das Aufbrechen dieser Horizonte, für all die neuen Erfahrungen, gar nicht schämen, sollte es misslingen. Oder rechtfertigen. Wir können uns einfach nur freuen. Und wir selber sein.

Ich habe beispielsweise meinen ersten Kuss im Urlaub bekommen. Vielleicht können einige Leser sich noch an ihren ersten Kuss erinnern? Nicht immer ist das so, wie man sich das vorstellt. Ein wenig feucht, mit diesem Gefühl von „Aha, das ist das also, dieses küssen“. Ich wurde – ganz romantisch sogar – das erste Mal am Strand geküsst. Die Sonne ging unter, es war auflaufendes Wasser und der Geruch von Muscheln, Salz und Algen hing in der Luft. Es war perfekt – nur der Kuss war es nicht. Aber immerhin kam ich geküsst aus dem Urlaub zurück und musste nicht jahrelang auf dem Schulhof stehen und denken: „Das war er also, der Junge, mit dem Du das erste Mal geknutscht hast. Peinlich!“

Natürlich sind nicht alle Erfahrungen im Urlaub so fundamental. Aber es gibt so viel, dass man aus diesen wenigen Tagen oder Wochen im Jahr ziehen kann. Das Wissen, alleine einen Kaffee trinken gehen zu können (wenn man alleine reist), die richtige Haarhaltetechnik, weil die beste Freundin sich mit beiden Händen würgend von zu viel Cocktail am Toilettenrand festhalten muss, das Gefühl, mit dem wichtigsten Menschen der Welt auf das Meer zu sehen, ganz klein und doch ganz groß in seiner Liebe zu sein. Und all das ohne Chefs, Vorlesungen und Menschen, denen wir jeden Tag begegnen.

Und weil ich die Zeit des geneigten Lesers nicht zu sehr in Anspruch nehmen möchte, ein Fazit meiner Überlegungen: Reisen sollte man. Immer. Und immer wieder. Weil das Aufbrechen, Ankommen und Zurückkehren Gefühle sind, die glücklich machen und immer wieder zeigen, wohin wir gehören, was wir können und was wir sind. Und es muss ja nicht weit weg sein. Ins Nachbarstädtchen mit belegten Brötchen im Rucksack, in den Wald im Nachbarlandkreis, wo man auf Rehpirsch geht. Oder eine Radtour an den See in einiger Entfernung mit Decke und Mineralwasser und Obstsalat im Gepäck. Weil wir danach ein anderer Mensch sind. Mit dem Gefühl von Freiheit im Herzen und dem Strahlen der Sonne auf den Wangen.